Fisimatenten 500
von Orkan Akpinar
Im Nachhinein frage ich mich, was schlimmer war. Die Fahrt als solche oder die Woche davor. Wir waren zum Nichtstun und warten verbannt. Die Vorbereitung und Planung sind abgeschlossen, der Körper muss geschont werden. Außer die Checklisten abarbeiten, die Verpflegung einkaufen und vorbereiten blieb uns nichts weiter zu tun als die Spannung auszuhalten und die Tage und Stunden zu zählen. Der Versuch, ein paar Stunden vor der Tour zu schlafen schlug fehl, für mehr als ein Nickerchen waren wir einfach zu aufgekratzt. Irgendwann war er dann doch da: Der sehnsüchtig erwartete Start.
Gegen 20 Uhr am Freitag, den 10. Juni fuhren wir in Lörrach los. Endlich. Ein kleiner Schwenker durch die Schweiz, ein bischen Slalom durch die Nachtschwärmer und schon waren wir in der Petite Camargue alsacienne, einem schönen Naturreservat am französischen Ufer des Rheins im Dreiländereck. Je größer die Entfernung von zu Hause wurde, desto eher fiel die Spannung und die Gereiztheit von mir ab. Ich konnte mich entspannen und anfangen das Abenteuer auf mich wirken zu lassen. Wir hatten Glück mit dem Wetter, die nächsten 24 Stunden sollte es warm, sonnig und klar werden. Das erste kleine Highlight war Neuf-Brisach, eine im 18. Jahrhundert erbauten Planstadt in Form eines Achtecks mit zentralem Exerzierplatz, der heute als Marktplatz genutzt wird. Das Straßennetz ist schachbrettförmig als Idealform einer Festungsstadt angelegt. Nein, ich wusste das nicht vorher. Ich habe es im Nachhinein gegoogelt. Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen beim Rad fahren: Unbekanntes sehen, recherchieren, Wissen, eine Bindung aufbauen. Neuf-Brisach war eine nette Abwechslung zu den sonst kerzengeraden Radwegen am Kanal, die wir die ersten 150 km fahren sollten.
Nach 75 km war der erste von 9 Checkpoints geplant, die danach in 50 km Abschnitten folgen sollten. Dankenswerterweise hatten meine Eltern alle 9 Checkpoints im Vorfeld abgefahren, trotzdem hatte ich Schwierigkeiten uns dorthin zu navigieren. Es war dunkel und der Ort - eine Brücke über dem Radweg – in diesem Abschnitt sehr repetitiv. Gefunden haben wir Sie trotzdem, jedoch standen unsere 3 IKEA-Plastikkisten noch nicht auf der Straße, das musste noch geübt werden. Unsere Idee war, dass alles was wir brauchen in diesen 3 Boxen ist und unsere Support-Crew nichts anderes tun muss, als diese vor den Camper zu stellen, so dass wir uns an dem bedienen können wonach uns ist. Meine Strategie war, an den Verpflegungspunkten etwas herzhafteres, größeres zu Essen wie z.B. unsere vorher selbst belegten Laugenstangen mit Bergkäse, ungetoastete Toastbrote mit Erdnussbutter und Marmelade oder der Pizza, die mein Freund Adriano uns gespendet hat. Jeder steckte sich die Cargoshorts mit Bananen voll, von denen wir jede miteinander teilten. Generell hat der eine den anderen gefüttert und wir aufeinander aufgepasst. Die Tasche auf meinem Oberrohr war vorderseitig mit den Polentaschnitten meiner Freundin Karin belegt, von denen jeweils eine in meinem Mund landete, die andere Bastian aufgenötigt wurde. Meine Trikottaschen habe ich mit Haribo und Salzbrezeln befüllt. Mein Ziel war es, innerhalb der 50 km meine beiden Flaschen zu trinken, mindestens eine Banane zu essen und eine Tasche Salzbrezeln/Haribo zu essen. Die Abläufe schleiften sich ein: den Checkpoint anfahren, in der kurzen Pause Essen, Essen/Trinken auffüllen, weiterfahren, während der Fahrt Essen, den nächsten Checkpoint anfahren. Das Ganze war sehr repetitiv und blieb im Prinzip bis zum Schluss identisch.
Den ersten und einzigen Schreckmoment hatten wir im ersten fünftel, als eine der zahlreichen Bisamratten plötzlich aus den Büschen vor Bastians Rad lief. Er kam gerade so vorbei und ich sah mich schon eine Flugrolle über den Lenker machen. Glück für mich, Pech für die Bisamratte: Ich fuhr ihr über den Schwanz. Unfall abgewendet.
Die erste richtige Abwechslung in der Strecke kam bei km 173, unserem dritten Checkpoint. Meine Eltern hatten sich in Straßburg verfahren und kamen gerade rechtzeitig an. Wir fuhren in dichten Wald, der Himmel war sternenklar und beim Sterne gaffen dachte ich mir, dass ich öfters Nachts draußen sein und außer dem kleinen Wagen mehr Sternenbilder kennen sollte. Die tiefschwarze Nacht wurde allmählich vom dunkelblau des anbrechenden Morgens abgelöst und die Bäume gaben immer mehr von ihren Konturen Preis. Der erste Anstieg in den Nordvogesen war gleichmäßig und gut zu fahren. Just als es Anfing zu dämmern, ließ mir die Müdigkeit die Augenlider so schwer werden, dass sie mir während der Fahrt immer wieder kurz zufielen. Zum Glück passierte nichts (Bitte erzählt meinen Eltern nichts davon). Ich fror und rettete mich in die Helligkeit. Gegen 6 Uhr morgens passierten wir nach 219 km die deutsche Grenze und befuhren den Bliesgau. Als zu Beginn der Pandemie die Grenzen geschlossen und mit Flatterband, Zäunen und Kontrollen „befestigt“ wurden, war ich im Dreiländereck nicht nur in meiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt, sondern durfte auch meine damals in der Schweiz lebende Freundin nicht sehen. Heimlich schlich sie sich über die grüne Grenze. Entsprechend dankbar bin ich noch heute für die offenen Grenzen in Europa, jedes Mal wenn ich eine passiere. Ein Privileg, dass mir seit Frühjahr 2020 noch bewusster ist. Die Passage wartete mit Sonnenstrahlen zwischen den Bäumen auf. Die Morgensonne erstrahlte den Morgentau auf den Wiesen, die Luft war frisch und klar. Mein Körper sehnte sich nach den ersten Sonnenstrahlen, die immer mal wieder durch die Bäume durchbrachen. Dieser spontane Moment aus Licht, Landschaft und Laune kreiierten in mir ein sehr spezielles Glückgefühl, dass ich nur schwer in Worte fassen kann.
Bei km 233 kamen wir in Zweibrücken bei einem speziellen Checkpoint an. Aldi Süd hatte uns angeboten, bei Ihnen auf ihre Kosten einzukaufen. Was Sie damals nicht wussten war, dass meine Eltern mit ihrem Campervan anwesend waren. Gerade waren E-Bikes und Gasgrille im Angebot, die Verlockung also groß auf ein E-Bike umzusatteln und ein kleines BBQ anzufeuern. Die Filialleitung war jedoch so freundlich zu uns, dass wir davon absehen und uns auf Donuts, Wraps, Wasser und Kekse beschränkten. Eine tolle Geste, danke dafür.
Die Müdigkeit war gerade rechtzeitig überstanden, im Naturpark Saar-Hunsrück wartete der erste Abschnitt mit welligem Profil auf uns. Vor dem Gesamtanstieg von 4.150 positiven Höhenmetern hatte ich großen Respekt, dementsprechend konsequent war mein Pacing die Anstiege hinauf. Die Körner mussten behutsam eingeteilt werden. Der letzte Anstieg überraschte an der Kuppe mit einem atemberaubenden Blick auf die Moselschleife bei Trittenheim. Einer dieser – auf dieser Tour zahlreichen – unerwarteten „Wow!“ Momente, in denen man überrascht ist, wie schön manche Gegenden sind. In diesem Fall die Mosel.
Mittlerweile war es sehr heiß geworden, insbesondere im Moseltal. Die Sonne brannte uns auf die Helme, als uns eine fiese, steile Rampe von der Mosel weg Richtung Eifel begrüßte. Hier half nichts anderes, als mit viel Kraft treten. Oben angekommen prüfte ich das Höhenprofil. Ich wusste, irgendwann erwartet uns eine längere, steilere Rampe mit über 10% und musste mit Ernüchterung feststellen, dass es nicht diese war. Herzlich willkommen in der (Mosel)Eifel. Die gefürchtete Rampe sollte erst 15 km später am Eingang in den Kondelwald kommen. Bis dahin schwiegen und schwitzen wir in der Mittagshitze, erwartungsvoll auf die nächste Prüfung.
Sie kam plötzlich und war ebenso plötzlich vorbei. Wir beide sind schon längere und steilere Anstiege gefahren, aber nach einer durchgemachten Nacht, 368 km in den Beinen und in der Mittagshitze war der Anstieg alles andere als spaßig. Wir waren in der Vulkaneifel angekommen und wussten, dass uns auf den nächsten ca. 80 km die meisten Höhenmeter der Tour erwarteten. Auf die Eifel hatte ich mich besonders gefreut. In der Kindheit war sie so nah, in meiner Wahrnehmung so fern. Mehr als die Klassenfahrt in Hellenthal, die Oleftalsperre und das Freilichtmuseam in Kommern hatte ich nicht von ihr gesehen. Dementsprechend gierig sog ich die Eindrücke auf, genoss die abwechslungsreiche Landschaft und verfluchte innerlich diese verdammten Anstiege. Ein Königreich für ein paar flache Kilometer. Kurz vor Daun fuhren wir auf dem Maare-Mosel Radweg, welcher auf ehemaligen Bahntrassen verläuft und nach Daun latent bergab ging. Man kann die Beine ausschütteln, rollen lassen und die Landschaft genießen. Checkpoint Nr. 7 in Daun, die übliche Prozedur und weiter geht’s. An der Schönheit der Landschaft änderte sich nichts, an den zahlreichen Anstiegen auch nicht. An unserer Laune schon. Die sank nämlich. Was ich befürchtet hatte, trat ein: Die verkackten Anstiege rauben einem den letzten Nerv. Sie sind nicht wirklich steil und kosten nicht sonderlich viel Kraft, aber sie sind zahlreich und zermürben einen langsam, aber stetig. Bei unserem Checkpoint Nr. 8 bei km 435 in Nettersheim hatten wir die Eifel gedanklich hinter uns gelassen. Die Eifel unser aber nicht. Es warteten noch 20 km auslaufende Eifel von uns, die Stimmung sank weiter und mittlerweile traute ich mich fast kaum noch, Bastians Nachfragen, ob dass jetzt der letzte Anstieg gewesen sei, zu beantworten. Wie eine Fata-Morgana tauchten plötzlich die Schornsteine der Kohlekraftwerke auf, die Heimat und das Ziel waren in Sichtweise. Meine Hände taten vom vielen Lenker greifen allmählich weh, meine Füße schmerzten und meine Sitzknochen noch mehr. Ich fuhr abwechselnd im Wiegetritt um mich mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder auf den Sattel zu setzen. Sie Sonne verabschiedete sich allmählich wieder, es wurde ein bischen kühler und angenehmer.
Die Heimat in Sichtweise, die Eifel nun endgültig hinter uns gelassen und auf einen Sonnenuntergang zufahrend, der atemberaubender nicht sein konnte, bekam ich Gänsehaut und wieder Tränen in den Augen. In Daun war es noch der Anruf meines Bruders gewesen, der uns in Nettersheim überraschen wollte und ankündigte, im Ziel auf uns zu warten. Im Rheinland war es die Tatsache, dass es nun fast geschafft war und im Ziel meine Familie auf mich wartete. Der Geist drückt auf’s Gas, der Körper stottert und schafft es nicht auf Volllast. Checkpoint Nr. 9 bei km 471 war in Erftstadt. Bei den letzten beiden Checkpoints waren auch wieder meine Eltern dazugestoßen, die zwischenzeitlich von Bastians Vater Heijo abgelöst wurden. Die Euphorie war bei unserer Supportcrew angekommen. Waren sie im Vorfeld ungläubig, dass man überhaupt 500 km Rad fahren kann bzw. überhaupt sollte, sahen sie nun, dass es fast vollbracht war.
Auch der zweite Sonnenuntergang war erlebt und wir fuhren von Niederaußem und Rath kommend auf die beiden Kraftwerke in Neurath zu. Was für andere Menschen der schiefe Turm von Pisa, der Eiffelturm in Paris oder die Freiheitsstatue von New York ist, das sind die beiden Kraftwerke für mich. Denkmäler. Grevenbroich. Heimat.
Ich war losgezogen, um mich meinen Dämonen zu stellen, ich habe den Wald bei Sonnenuntergang, bei Nacht, bei Sonnenaufgang und wieder bei Sonnenuntergang gerochen. Ich habe die Sonne untergehen, wiederaufgehen und wieder untergehen sehen. Ich habe das Lichtspiel der Sonne mit seiner Umgebung gesehen. Ich habe die Sterne angestarrt. Ich bin auf dem Rad eingeschlafen. Ich habe Freude, Schmerz, Verzweiflung und Glück gespürt. Ich hatte Gänsehaut und Tränen in den Augen. Ich hatte viel Zeit nachzudenken. Über die letzten drei Jahre, die eine emotionale Achterbahn, gleichzeitig die schwierigsten und schönsten Jahre für mich waren. Ich hatte jegliche Hoffnung verloren und sie wiedergewonnen. Ich habe Freunde gefunden. Freunde verloren. Freunde wiedergefunden. Ich habe Kameradschaft erlebt. In den letzten knapp 23 Stunden habe ich auf jemanden aufgepasst und jemand hat auf mich aufgepasst. Mir wurde der Arm auf die Schulter gelegt und gut zugeredet. Viele Umarmungen ausgetauscht. Wir haben unser Essen, die Höhen, die Tiefen, die Gespräche und die Stille miteinander geteilt.
Ich habe Frieden mit meinem Leben gemacht und dies 516 km und 22 Stunden, 39 Minuten, 19 Sekunden lang, über 4.150 positiven Höhenmetern hinweg, 12.905 Kalorien verbrennend zelebriert. Es hat niemand die Tränen der Rührung, der Freunde und Erschöpfung gesehen, die ich heimlich, still und leise verdrückt habe als wir im Bend auf den letzten Kilometer einbogen. Es war vollbracht.
Ich möchte jedem, der uns während der Tour per GPS verfolgt und uns Nachrichten hat zukommen danken. Der überwältigende Zuspruch im Vorfeld und während der Tour haben uns ins Ziel getragen. Danken möchte ich auch jedem Spender, es sind insgesamt 11.000€ für einen guten Zweck zusammengekommen. Insbesondere möchte ich mich bei meinen Eltern bedanken, die im Vorfeld alle Checkpoints abgefahren sind und mir bzw. uns eine große Hilfe waren. Auch an Heijo, der die zweite Hälfte übernommen hat. Meinem Bruder und meinen Nichten, die an die Checkpoints bzw. in Ziel gekommen sind, meiner Freundin Karin, die in dem letzten halben Jahr an sehr vielen Wochenenden auf mich verzichten musste und zu guter Letzt und ganz besonders bedanken möchte ich mich bei Bastian. Dafür, dass du dich hast überreden lassen mitzukommen, die ganze Spendenaktion organisiert und betreut hast, meine Laune ausgehalten und meine Freude geteilt hast. Danke mein Freund!